NETZWERK ARTIKEL 3
Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.
Aus: Behinderung
& Menschenrecht
- Lfd. Nr. 26 - Oktober - November 2004
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Sozialabbau - es kommt noch dicker
Das Sozialgesetzbuch XII (vgl. B & M 24, S. 35 ff) mit seinen vielen Verschlechterungen für behinderte Menschen, ist noch nicht in Kraft und schon soll es weiter zu Lasten behinderter Menschen und deren Angehörige verändert werden. Die bayrische Landesregierung hat am 17. September einen Gesetzesantrag in den Bundesrat eingebracht, der einen Generalangriff auf die Eingliederungshilfe und andere Behindertenhilfen gleichkommt.
Unter dem Titel » Gesetz zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich (KEG) « lässt die bayrische Landesregierung ihren schmutzigen Fantasien freien Lauf und fordert eine drastische Verschlechterung in der Kinder und Jugendhilfe und im SGB XII. Wir beschränken uns hier darauf, die vorgeschlagenen Änderungen im SGB XII und die Folgen für die Eingliederungshilfe und für die behinderten Menschen darzustellen.
- Im Sozialgesetzbuch XII soll der § 9 geändert werden. Zukünftig sollen die Träger der Sozialhilfe in der Regel allen Wünschen der Leistungsberechtigten nicht entsprechen, deren Erfüllung mit Mehrkosten verbunden ist. Bisher schreibt der § 9 vor, das Wünschen nicht entsprochen werden soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Insbesondere für Menschen, die viel Hilfe und Pflege brauchen, bedeutet diese Regelung ein Ende jeglicher Selbstbestimmung. Der Sozialhilfeträger findet immer - insbesondere in den zukünftigen Zeiten zahlreicher 1-Euro-Jobs - einen preiswerteren Anbieter oder eine in jeder Beziehung billigere Hilfe, um die Wünsche der behinderten Menschen abzulehnen.
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Der § 26 SGB XII soll dahingehend verändert werden, dass die Möglichkeiten des Sozialhilfeträgers, die laufende Sozialhilfe mit gegenüber dem Hilfesuchenden
bestehenden Rückforderungsansprüchen aufzurechnen, erweitert werden. Das hat zur Folge, dass - ähnlich wie beim Bezug von Arbeitslosengeld II - Menschen mit Hilfen abgespeist werden können, die unterhalb des durch die Regelsätze festgelegten Existenzminimums liegen.
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Die Bemessungskriterien für die Bestimmung der Regelsätze sollen künftig dem Landesrecht vorbehalten bleiben. Wenn es nach der bayrischen Landesregierung geht, ist künftig die Bestimmung der Regelsätze einschließlich der berücksichtigten Bemessungskriterien allein Ländersache. Die Länder sollen die Träger der Sozialhilfe ermächtigen können, abweichende höhere oder niedrigere regionale Regelsätze zu bestimmen. Das wird ganz schnell zu sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen innerhalb Deutschlands, zu verschiedenen Definitionen, was Armut und würdiges Leben bedeutet, und zu einem schäbigen Wettbewerb unter den Sozialhilfeträgern führen, welcher die niedrigsten Regelsätze festgelegt hat.
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§ 29 SGB XII soll so verändert werden, dass Hilfeempfänger, die ihrer Informationspflicht gegenüber dem Sozialamt vor Anmietung einer anderen Wohnung nicht nachkommen oder die in eine als unangemessen eingestufte Wohnung ziehen, künftig keinerlei Unterkunftskosten mehr erstattet bekommen. Bisher gibt es dann zumindest den als angemessen anerkannten Mietanteil.
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Die Verhandlungsposition der Sozialhilfeträger gegenüber den Leistungsanbietern soll weiter gestärkt werden. So sollen sie unter anderem die Möglichkeit erhalten, den Abschluss von Vereinbarungen nach § 75 SGB XII mit Einrichtungen zu verweigern, die nicht bedarfsgerecht sind. Die Fortgeltung abgelaufener Vereinbarungen soll künftig nur für die Dauer von sechs Monaten gesetzlich fortgeschrieben werden dürfen. Die Verhandlungsposition der Leistungsberechtigten wird nicht gestärkt, etwa dadurch, dass ihnen vom Kostenträger unabhängige Assistenz auch für und während des Antragsverfahrens bewilligt wird. Die Hilfe benötigenden behinderten Menschen werden daher nur noch mehr der Willkür der Sozialämter ausgesetzt sein.
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Das Kindergeld soll nach dem vorliegenden Gesetzentwurf zukünftig generell bei allen Hilfeformen, also auch bei Bezug von Grundsicherung nach SGB XII als Einkommen angerechnet werden.
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Die Erbenhaftung soll verschärft werden. Es wird eine unbeschränkte Haftung des Nachlasses eingeführt. Hinterlässt der Sozialhilfeempfänger Vermögenswerte, sind diese künftig unbeschränkt zur Rückzahlung der gewährten Hilfe einzusetzen.
Aber all diese Maßnahmen reichen der bayrischen Landesregierung noch nicht.
Im Bereich des Sozialgesetzbuches I soll eine Finanzkraftklausel eingefügt werden, die für alle Bücher des Sozialgesetzbuches gelten soll. In dem § 33 SGB I sollen folgende Sätze eingefügt werden:
» Die dadurch entstehenden Kosten müssen vertretbar sein und dürfen die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Trägers nicht überfordern. Die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Trägers ist bei den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten hinsichtlich des Ausgestaltung der Leistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches stets zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt bei Vereinbarungen die nach dem besonderen Teil dieses Gesetzbuches getroffen werden. «
Das bedeutet, dass bei allen Vorschriften in allen Büchern des SGB, die Wunsch- und Wahlrechte enthalten, die Finanzkraft des öffentlichen Trägers als Abwägungsgesichtspunkt bei der Entscheidung über die Ausgestaltung der Leistungen zu berücksichtigen ist. Das gleiche soll zukünftig auch bei allen Verhandlungen über Vereinbarungen nach allen Büchern des SGB gelten. Die Finanzkraft des öffentlichen Trägers ist das Maß aller Dinge. Das Wunsch- und Wahlrecht, die Bedarfsdeckung, das Individualitätsprinzip, die Förderung der Selbstbestimmung - all das gilt nicht mehr. Die Würde des Menschen ist antastbar, wenn es der Finanzminister für notwendig erklärt.
Und damit es die Leidtragenden nicht zu doll und zu bunt treiben beim Widersprucheinlegen und Klagen, soll auch noch das SGB X geändert werden: Das Einlegen von Rechtsmitteln soll künftig mit einer Strafgebühr bis zu 2.600 Euro belegt werden, wenn dieses einen Missbrauch darstellt.
Gerlef Gleiss
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Dienstag, 22.08.2023, 09.06