kobinet-nachrichten 14.09.2004
Vom 8.-10. September 2004 trafen sich beim Weltkongress von Disabled Peoples’ International - DPI über 800 meist selbst behinderte Menschen aus 107 Ländern der Welt. Über ihre Eindrücke und ihre Lust und ihren Frust bei dieser Tagung der weltweit agierenden Dachorganisation von Organisationen von behinderten Menschen sprach kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit Dr. Sigrid Arnade, die für das Weibernetz nach Winnipeg gereist war.
kobinet-nachrichten: Mit welchen Erwartungen sind Sie nach Winnipeg geflogen?
Dr. Sigrid Arnade: Ich wollte etwas über die internationale Behindertenpolitik erfahren, die hier in der Bundesrepublik in der Selbstbestimmt-Leben-Szene meines Erachtens etwas zu kurz kommt. Außerdem war ich gespannt auf die Sitzungen zur UN-Konvention zum Schutz und der Förderung der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen. Zum dritten interessierte es mich besonders, ob und wie behinderte Frauen in anderen Ländern organisiert sind.
kobinet-nachrichten: Wie beurteilen Sie diese drei Punkte jetzt nach der Konferenz?
Dr. Sigrid Arnade: Zur internationalen Behindertenpolitik: Faszinierend war die Vielfalt von behinderten Menschen, die sich in Winnipeg versammelt hatten. Rund 800 TeilnehmerInnen mit Behinderungen aus 107 Ländern zu erleben - alleine das ist eine einmalige Erfahrung. Hinsichtlich internationaler Behindertenpolitik sind viele Themen diskutiert worden. Neue Erkenntnisse oder Ziele sind mir aber leider nicht bekannt.
Zur UN-Konvention: Mit dem Leiter des Ad hoc-Komitees, dem ecuadorianischen Botschafter Luis Gallegos, stand ein hochkarätiger UN-Vertreter für Fragen zur Verfügung. Vorher gab es drei weitere Referenten, die sich mit der UN-Konvention gut auskennen. In der Diskussion wurde von Teilnehmerinnen aus verschiedenen Ländern darauf hingewiesen, dass Frauen in der Konvention bislang unsichtbar bleiben und dieser Zustand geändert werden muss. Die Herren haben als Diplomaten versprochen, diesen Aspekt bei künftigen Diskussionen einzubringen.
Zu behinderten Frauen: Ich war erstaunt darüber, wie gut beispielsweise die behinderten Frauen aus dem asiatischen Raum organisiert und vernetzt sind. Das hatte ich nicht erwartet. Wir EuropäerInnen denken ja schnell, wir seien «die Spitze der Bewegung». Und nun habe ich zum Beispiel von einer Frau aus Korea erfahren, dass es dort selbstverständlich ist, staatliche Hilfen für behinderte Mütter zur Verfügung zu stellen.
kobinet-nachrichten: Können Sie uns von Höhe- und Tiefpunkten der Reise berichten?
Dr. Sigrid Arnade: Fangen wir mit dem Tiefpunkt an: Erst nach meiner Rückkehr habe ich aus den kobinet-nachrichten erfahren, dass 43 behinderte Menschen nicht an der Konferenz teilnehmen konnten, weil sie kein Visum erhalten haben. Der kanadische Staat wollte ihnen die Reise finanzieren, aber die Behörden hatten Angst, dass die Betroffenen Asyl beantragen würden. Das hat mich schockiert und geärgert. Vor allem bin ich empört darüber, dass davon auf der Konferenz nicht die Rede war. Die DPI-Vorsitzende hätte das Thema ansprechen müssen. Die Politiker, die den Staat mit schönen Reden vertraten, hätten mit diesem Skandal konfrontiert werden müssen. Ganz harmonisch feierten die VeranstalterInnen und RegierungsvertreterInnen sich und betonten die Bedeutung der Menschenrechte für alle. Gleichzeitig blieben 43 Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen, weil sie aus «armen» Ländern kommen wollten. Das ärgert mich maßlos!
Enden will ich aber mit einigen Höhepunkten: Die langjährige deutsche Aktivistin Dinah Radtke ist zwei Tage vor Konferenzbeginn zur stellvertretenden DPI-Vorsitzenden gewählt worden. Sie ist außerdem die Vorsitzende des Frauen-Komitees, so dass zu hoffen ist, dass die Frauenthemen innerhalb der DPI-Politik künftig mehr Gewicht bekommen. Dem Engagement von Dinah Radtke ist es auch zu verdanken, dass etwa in 25 Prozent aller Workshops Frauenthemen behandelt wurden. Damit waren Frauen mit Behinderungen gut vertreten und sind auch künftig nicht mehr aus internationalen politischen Zusammenhängen wegzudenken.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.
(Das Interview führte kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul)
Quelle: www.kobinet-nachrichten.org