kobinet-nachrichten 20.09.2004
Wiesbaden (kobinet) Nachdem die Hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger den Gesetzesentwurf für ein hessisches Landesgleichstellungsgesetz in ihrer Landtagsrede letzte Woche in blumigen Worten gelobt hat, veröffentlichen wir die Rede des Landtagsabgeordneten der Grünen, Dr. Andreas Jürgens, zum Gesetzesentwurf der Hessischen Landesregierung. Der Abgeordnete hatte selbst einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet und zeigte sich angesichts des von der Regierung präsentierten Vorschlages bitter enttäuscht. Hier die Rede von Dr. Andreas Jürgens, der er als Antwort auf die Vorlage der Ministerin letzte Woche im Hessischen Landtag hielt:
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Wir haben uns bereits anlässlich der 1. Lesung des von meiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurfs über ein paar grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit der Gleichstellung behinderter Menschen unterhalten. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen, sondern kann meine Zeit nutzen, mich mit den Einzelheiten des heute zu lesenden Gesetzentwurfes zu beschäftigen.
Am 1. Mai 2002 ist das Behindertengleichstellungsgesetz auf Bundesebene in Kraft getreten. Damit wurde erstmals in Deutschland die Gleichstellung behinderter Menschen zum Gegenstand der Gesetzgebung. In der Folgezeit haben eine Reihe von Ländern eigene Gleichstellungsgesetze geschaffen, wie zum Beispiel Rheinland-Pfalz und Bayern, um nur zwei zu nennen. Man kann daher sagen, dass sich inzwischen ein gewisser Standard an Gleichstellungsgesetzgebung für behinderte Menschen in Deutschland herausgebildet hat. Die Hessische Landesregierung übernimmt mit dem nunmehr vorgelegten Gesetzentwurf gerade mal den Mindeststandard dieser Gesetzgebung.
Selbstverständlich bin ich mit denjenigen Regelungen ihres Entwurfs einverstanden, die mit Teilen unseres Entwurfes übereinstimmen, teilweise bis in die Formulierungen hinein. Sogar der Gesetzestitel ist ja von uns übernommen. Genutzt haben sie die Zwischenzeit von acht Monaten allerdings dafür, herauszufinden, wie sie den an sich bundesweit unstreitigen Standard von Gleichstellungsregeln möglichst unterbieten können. Und das ist Ihnen in der Tat gelungen. Sie fügen keine eigenen Akzente hinzu, es gibt nichts innovativ Neues, sie bleiben sogar in entscheidenden Punkten hinter dem zurück, was in anderen Bundesländern längst geltendes Recht ist. So - Frau Ministerin - können sie die Gleichstellung behinderter Menschen in Hessen nicht voran bringen.
Kommen wir gleich zu einem Knackpunkt Ihres Entwurfs: alle Gleichstellungsregeln sollen nach Ihrer Vorstellung nur gelten für die sogenannten «Träger öffentlicher Gewalt». Das sind nach dem Entwurf das Land, seine Behörden und Dienststellen sowie die seiner Aufsicht unterliegenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts aber - jetzt kommt’s: - «mit Ausnahme der kommunalen Gebietskörperschaften». Die brauchen die Zielsetzung des Gesetzes nicht beachten, keine Barrierefreiheit fördern, keine Gebärdensprachdolmetscher für die Kommunikation mit gehörlosen Personen heranziehen, keine Bescheide in für blinde und sehbehinderte wahrnehmbarer Form herausgeben usw. usw. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Völlig zu Recht führen Sie zur Begründung des Gesetzes aus, dass damit das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes umgesetzt werden soll. Die Grundrechte gelten unmittelbar für alle öffentlichen Träger, selbstverständlich auch für die Gemeinden und die Gemeindeverbände. Sie schaffen aber plötzlich grundrechtsfreie Zonen in diesem Land. Sie sagen: das Grundgesetz gilt für alle, nur nicht für die hessischen Gemeinden. Ich weiß nicht, ob Sie sich wirklich überlegt haben, was Sie da dem Landtag in Ihrem Entwurf zumuten. Wir sollen mal so eben beschließen, dass bundesdeutsches Verfassungsrecht die hessischen Kommunen nichts angeht.
Schauen wir uns den von Ihnen vorgeschlagenen § 9 Abs. 3 an: «Ein Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des Abs. 1 Satz 1 (- das sind die genannten Stellen ohne die kommunalen Gebietskörperschaften -) darf behinderte Menschen nicht benachteiligen». Im Umkehrschluss: ausdrücklich ausgenommenen Körperschaften dürfen benachteiligen. Ja wo sind wir denn? Im Grundgesetz heißt es: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden». Und auch dieses Grundrecht bindet unmittelbar jeden öffentlichen Träger, auch die Kommunen. Verfassungsrecht verbietet ihnen die Benachteiligung, aber das hessische Landesrecht will es ihnen mal so eben erlauben? Frau Lautenschläger, sie verzichten nicht nur auf Forschritte in der Behindertenpolitik, sie wollen das Rad wieder 10 Jahre zurückdrehen. Vor die Grundgesetzänderung von 1994.
Und das größte dabei ist: diese zentrale Vorschrift, mit der sie mal so eben Verfassungsrecht außer Kraft setzen wollen, bleibt ohne jede Begründung. Wenn man sich ihre schriftliche Gesetzesbegründung anschaut: da wird § 9 Abs. 1, Abs. 2 und dann Abs. 4 begründet. Zum zentralen Abs. 3 kein einziges Wort der Begründung. Und das kann ich gut verstehen: dazu kann einem nichts einfallen. Das ist wirklich ohne Worte.
Sie haben für die Kommunen nur einen wachsweichen Prüfauftrag, «ob sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten die Ziele des Gesetzes bei ihren Planungen und Maßnahmen umsetzen können». So ist das also: künftig prüfen die Gemeinden in Hessen wohl, ob sie die Grundrechte beachten wollen oder eben auch nicht. In der Begründung führen sie aus, die Gemeinden müssten die finanziellen Spielräume prüfen, «um den Verfassungsanspruch des Artikel 3 Abs. 2 Grundgesetz realisieren zu können». Grundrechte werden realisiert, wenn es die Kassenlage zulässt. Wenn nicht, dann eben nicht. Eine völlig neue Grundrechtstheorie. Vielleicht sollten wir auch Art. 1 des Grundgesetzes neu fassen: «Die Würde des Menschen ist unantastbar, außer das kostet zu viel». Das kann wirklich nur in einem Bundesland ernsthaft vorgeschlagen werden, in dem man jetzt schon für die Demonstrationsfreiheit zur Kasse gebeten wird.
Kein einziges Bundesland hat nach meinem Kenntnisstand auch nur erwogen, einen solchen «Grundrechtsdispens» für Gemeinden einzuführen. Auch Bayern hat in seinem Gleichstellungsgesetz selbstverständlich die Gemeinden und Gemeindeverbände in das Benachteiligungsverbot einbezogen. Ich erwähne dies nicht nur deshalb, weil sich die Landesregierung jedenfalls bis vor kurzem gern an bayerischen Vorbildern orientiert hat, sondern weil auch die bayerische Verfassung wie die hessische ein «Konnexitätsprinzip» kennt. Das hat die Bayerische Staatsregierung und den Bayerischen Landtag aber nicht davon abgehalten, die Grundrechte selbstverständlich auch in den Kommunen umzusetzen.
Warum ist die Frage der Einbeziehung der Kommunen von so außerordentlicher Bedeutung? Es geht nicht nur um verfassungsrechtliche Prizipien, sondern vor allem um die Lebenswirklichkeit der Menschen. Die meisten haben doch - wenn sie überhaupt mit Behörden zu tun haben - Kontakt mit der Gemeinde- oder Kreisverwaltung vor Ort. Im Bundesgleichstellungsgesetz sind die Ansprüche behinderter Menschen gegenüber den Behörden auf die Bundesbehörden beschränkt. Die Länder hatten nämlich eine Erstreckung auf ihren Verwaltungsbereich strikt abgelehnt. Uns war klar, dass wir damit nur einen kleinen Teil der Lebenswirklichkeit erreichen konnten, denn welcher behinderte Mensch hat schon mal mit Bundesbehörden zu tun. Die jetzt von Ihnen vorgesehene Erweiterung auf Landesbehörden ist wichtig, betrifft aber eben auch nur einen Teilbereich. Von erheblicher Bedeutung ist selbstverständlich auch für behinderte Menschen der Kontakt zu den Gemeindebehörden vor Ort.
Das wissen Sie auch selbst ganz genau. In der Kostenabschätzung für die Inanspruchnahme von Gebärdensprachdolmetschern haben Sie angegeben, dass durchschnittlich etwa drei Behördenkontakte pro gehörloser Person zu erwarten seien, «zum Beispiel zum Zwecke der Anmeldung/Ummeldung des Wohnortes oder Passverlängerung beim Einwohnermeldeamt». Die Beispiele sind lebensnah gewählt. Allein: das Einwohnermeldeamt ist eine kommunale Behörde. Nach Ihrem Entwurf gibt es gar keinen Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher bei genau diesen Behördenkontakten.
Bei den von Ihnen angenommenen drei Behördenkontakten sind mindestens zwei, vermutlich eher alle drei, solche zu kommunalen Behörden. Der in Ihrer Kostenberechnung angenommene Betrag soll im Landeshaushalt erwirtschaftet werden. Wenn Sie die Behindertenrechte für einen Fall des Konnexitätsprinzips der Hessischen Verfassung halten - woran man erhebliche Zweifel haben kann -, dann muss es auch möglich sein, die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher den Gemeinden zu erstatten. So oder so, es gibt keinen vernünftigen Grund, die Kommunen von den Regelungen des Gesetzes auszunehmen.
Ich appelliere an dieser Stelle auch ausdrücklich an die kommunalen Spitzenverbände: geben Sie grünes Licht für die Erstreckung des Gleichstellungsgesetzes auf die Kommunen. Oder wollen Sie wirklich, dass die hessischen Kommunen ein weißer Fleck auf der Landkarte der Gleichstellung bleiben? Können sie verantworten, dass ausgerechnet die hessischen Gemeinden die letzte Bastion für veraltetes paternalistisches Verhalten gegenüber behinderten Menschen sind? Das Image der rückständigen Gleichstellungsverweigerer ist für die hessischen Kommunen unvermeidlich, wenn das, was uns hier vorliegt, wirklich Gesetz wird.
Ich stelle weiter fest, dass der Gesetzentwurf der Landesregierung im Widerspruch steht zum Beschluss des Landtages vom 8. Mai 2003 (Drucksache 16/99). Auf Antrag der CDU-Fraktion wurde damals die Landesregierung aufgefordert, die Ergebnisse der interministeriellen Arbeitsgruppe zur Überprüfung des hessischen Landesrechts im Hinblick auf die Benachteiligung behinderter Menschen bei der Erarbeitung eines Gleichstellungsgesetzes als Grundlage zu nehmen. In der Debatte bin ich damals diesem Antrag entgegengetreten, er wurde gleichwohl von der Mehrheit gefasst. Jetzt haben wir den Entwurf der Landesregierung - es hat immerhin anderthalb Jahre gedauert - und müssen feststellen: kein einziger Vorschlag der interministeriellen Arbeitsgruppe wurde aufgenommen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: die Arbeitsgruppe hatte Änderungsbedarf gesehen im Statistikgesetz, im Gesetz zur Ausführung der Kinder- und Jugendhilfe, im Gleichberechtigungsgesetz, in der HGO, im Denkmalschutzgesetz, im Hessischen Schulgesetz, im Gesetz über den hessischen Rundfunk, im ÖPNV-Gesetz und im Hochschulgesetz, in Weiterbildungs- und Prüfungsordnungen, in Verordnungen über verschiedene Ausbildungsgänge und Prüfungen etc.
Nur die Vorschläge für das Wahlrecht haben Sie umgesetzt. Ansonsten findet sich nichts von der umfangreichen Arbeit der Arbeitsgruppe in Ihrem Entwurf wieder. Man kann darüber streiten, ob alle Änderungsvorschläge sinnvoll waren. Manche gingen vielleicht auch nicht weit genug. Wie auch immer: Sie missachten fast vollständig die Vorschläge und gehen auch in der Begründung mit keinem Wort darauf ein. An der Arbeitsgruppe waren neben den Ministerien auch Vertreter verschiedener Behindertenorganisationen vertreten. Die müsen jetzt erleben, dass ihre Arbeit reine Beschäftigungstherapie war. Frau Lautenschläger: behinderte Menschen und ihre Organisationen Ernst zu nehmen sieht jedenfalls anders aus.
Das Fehlen von Änderungsvorschlägen für wichtige Teile des Landesrechts wäre zu verschmerzen, wenn diese in anderen Gesetzgebungsvorhaben aufgenommen würden. Die Arbeitsgruppe selbst hat an verschiedenen Stellen vorgeschlagen, Gesetzesänderungen in einem Artikel des Gleichstellungsgesetzes oder auch bei anderer Gelegenheit der Änderung von Gesetzen vorzunehmen. Selbstverständlich kommt es immer auf den Inhalt der Regeln an und nicht so sehr auf die Gesetzestechnik. Aber wir müssen feststellen: die CDU-Mehrheit im Landtag hat das Gesetz über den hessischen Rundfunk geändert, ohne eine Beteiligung behinderter Menschen am Rundfunkrat vorzusehen. Die Landesregierung hat einen umfangreichen Entwurf zur Änderung des Schulgesetzes vorgelegt, ohne Verbesserungen im gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder vorzusehen. Und auch der Entwurf zur Änderung des Hochschulgesetzes enthält bisher keine Vorschriften zugunsten behinderter Menschen. Und jetzt erleben wir, dass auch das Gleichstellungsgesetz zu allen diesen Punkten schweigt. Sie haben aus dem gesetzestechnischen entweder-oder der Arbeitsgruppe ein striktes weder-noch gemacht. Deutlicher kann man eine Nicht-Achtung gegenüber den Interessen behinderter Menschen kaum zum Ausdruck bringen.
Geradezu abenteuerlich wird es dabei im Bereich Erziehung und Bildung, also einem Bereich in originärer Landeskompetenz. Sie formulieren in Ihrem § 6 einen wunderbaren Grundsatz: «Öffentliche Einrichtungen zur Erziehung und Bildung in Hessen fördern die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung am Leben der Gesellschaft und bieten ihnen gemeinsame Lern- und Lebensfelder». Jetzt geht’s voran mit der Gleichstellung im Bildungsbereich, sollte man meinen. Aber weit gefehlt. Es folgt nämlich der Satz: «Das Nähere regeln die jeweiligen Landesgesetze». Die Landesgesetze regeln dann aber gar nichts. Kein Fortschritt in Schul-, Hochschul- und anderen Bildungsgesetzen. Es bleibt vielmehr in der Rechtslage alles beim Alten. Warme Worte in der Gesetzeslyrik. Aber keine belastbaren Rechte in den einschlägigen Gesetzen. Frau Lautenschläger: das ist kein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik, keine Förderung der Selbstbestimmung, dass ist alter Wein in alten Schläuchen. Sie haben sich von der traditionellen, paternalistischen Behindertenpolitik nicht wirklich trennen können.
Der Entwurf der Landesregierung ist blutleer und ohne Inspiration. Er ist eine Minimallösung, repräsentiert teilweise sogar den gesellschaftlichen Rückschritt. So kommt die Gleichstellung behinderter Menschen in Hessen nicht voran. «Hessen hinten» in der Behindertenpolitik ist für uns nicht akzeptabel.
Aber das scheint ja ein Merkmal der Rolle rückwärts in der Behindertenpolitik der CDU und CSU bundesweit zu sein. Niedersachsen streicht das Blindengeld. In Bayern soll es Behindertenhilfe künftig nur noch nach Kassenlage und nicht mehr als Rechtsanspruch geben. Baden-Württemberg sucht nach Wegen, sämtliche Leistungen für Behinderte auf den Bund zu übertragen. Thüringen kündigt weitreichende Einschnitte bei Sozialleistungen an. Sie zeigen den behinderten Menschen im Land ziemlich klar, was sie erwartet, wenn tatsächlich 2006 die Bundestagsmehrheit wechseln sollte.
Dem Sozialpolitischen Ausschuss liegt eine klare Alternative zum Entwurf der Landesregierung vor. Unser Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz formuliert den gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung wirklicher Gleichstellung. Wir behaupten nicht, dass dies in allen Bereichen perfekt gelungen ist. Ich verspreche mir von der Anhörung am 30. September noch wichtige Hinweise für Verbesserungen. Und dann wird sich der Ausschuss entscheiden müssen: geht es mit unserem Entwurf voran, oder verharrt die hessische Behindertenpolitik mit dem der Landesregierung in Stillstand und Rückschritt. Ich bin sicher, dass die behinderten Menschen im Lande, ihre Organisationen und Verbände, und alle an gleichberechtigten Lebensverhältnissen interessierten Menschen die Entscheidung sehr aufmerksam verfolgen werden.
Quelle: www.kobinet-nachrichten.org