Das Projekt zur «Förderung der Selbsthilfe und Gleichstellung Behinderter in Ungarn», das von der Aktion Mensch gefördert und vom NETZWERK ARTIKEL 3 – Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V. – und De juRe Alapitvany - Disability Rights Advocates Hungary – getragen wurde, nahm am 1. April 2001 nach intensiven Vorplanungen seine Arbeit auf und wurde am 31. März 2003 beendet.
Bereits zu Beginn des Projektes stand der Austausch zwischen der ungarischen und deutschen Selbsthilfebewegung im Mittelpunkt des Projektes. Dies zeigte sich zum Beispiel anhand der Aktivitäten zum Europäischen Protesttag für die Gleichstellung Behinderter, die in Ungarn vom im Rahmen dieses Projektes aufgebauten Bürgerrechtsbüro Behinderter koordiniert wurden. So fand in Budapest zum Beispiel Ende April 2001 eine Demonstration für eine barrierefreie Gestaltung von Gebäuden und Verkehrsmitteln statt. Diese Veranstaltung erzielte eine äußerst gute Resonanz in der ungarischen Presse und hatte daher neben den gezeigten Transparenten und verteilten Flugblättern bereits zu Beginn des Projektes eine gute Öffentlichkeitswirkung. Vor allem im Hinblick auf die anfangs sehr zögerliche Haltung ungarischer Behinderter gegenüber Demonstrationen war dies ein wichtiger Durchbruch für eine selbstbewusstere Haltung von behinderten Menschen in Ungarn.
Neben der Einstellung der Honorarkräfte und dem Aufbau des Bürgerrechtsbüros gelang es im Juli 2001 eine 3köpfige Delegation des Bürgerrechtsbüros zusätzlich zu den Zielen dieses Projektes und außerhalb des für dieses Projekt skizzierten Finanzplanes nach Deutschland zu holen. Die Delegation besuchte dabei für drei Tage Kassel und kam dort mit einer Vielzahl von VertreterInnen der Selbsthilfe- und Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen zusammen. Dabei wurde eine Reihe von positiven Beispielen für eine barrierefreiere Gestaltung der Stadt präsentiert und diskutiert. Vor allem stieß die Diskussion über die Durchsetzungsstrategien zur Erreichung der Erfolge auf großes Interesse bei den ungarischen Partnern.
Ebenfalls im Juli 2001 organisierte das Bürgerrechtsbüro einen ersten Schulungsworkshop für 22 junge Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Themen waren dabei die Selbstvertretung und Selbstbestimmung Behinderter, die Stärkung von sozialen und organisatorischen Fähigkeiten, die Vermittlung von know how für die Durchführung von Projekten und Vieles andere mehr.
Im August 2001 veröffentlichte das Büro ein Flugblatt über die Art und Weise, wie behinderten Menschen geholfen werden kann, bzw. welche Hilfe nicht hilfreich ist, das weithin verbreitet wurde. Im September 2001 initiierte das Bürgerrechtsbüro eine «Road show» für ein barrierefreies Land. Dabei absolvierten zwei behinderte Athleten in einem siebentägigen Programm täglich einen Marathon im Rollstuhl und warben während einer Vielzahl von Veranstaltungen für die barrierefreie Gestaltung des Landes im Norden und Nordosten Ungarns. Diese zusätzliche Aktion, für die im Aktion Mensch Antrag keine Förderung vorgesehen war, wurde u.a. auch vom Amt des Bürgermeisters von San Francisco unterstützt.
Neben der Mitwirkung an verschiedenen Tagungen und Konferenzen, wie zum Beispiel die Tagung für ein barrierefreies Ingenieurwesen, gründete das Bürgerrechtsbüro eine 10köpfige Vorbereitungsgruppe zur Durchführung einer internationalen Tagung mit dem Titel «Shared World Conference», die im Mai 2002 unter breiter internationaler Beteiligung – u.a. auch mit einer deutschen Vertreterin – in Ungarn stattfand. Insgesamt nahmen daran 106 Menschen aus Ungarn und 40 VertreterInnen anderer Länder teil. Diese Tagung war ein ausgezeichnetes Beispiel, wie es dem Bürgerrechtsbüro gelungen ist, verschiedene Verbände und Behinderungsgruppen verstärkt an einen Tisch zu bekommen.
Eine Vielzahl von Gerichtsterminen fand für die vom Bürgerrechtsbüro initiierte und unterstützte Musterklage eines Rollstuhlnutzers gegen ein für RollstuhlnutzerInnen nicht nutzbares neu umgebautes Cafe im Herzen von Budapest statt. Am 16. Januar 2003 wurde hierfür letztendlich ein Urteil gefällt, das nicht mehr anfechtbar ist. Dabei wurde dem Bürgerrechtsbüro auf der Basis des ungarischen Gleichstellungsgesetzes (das Gesetz ist in englischer Sprache bei www.netzwerk-artikel-3.de dokumentiert) in allen Punkten Recht gegeben und das Budapester Cafe Central u.a. dazu verpflichtet, das Cafe, das bisher nur über Stufen erreichbar war, innerhalb von 120 Tagen barrierefrei umzugestalten. Zudem wurde dem Kläger ein Schmerzensgeld gewährt und das Cafe dazu verpflichtet, sämtliche Gerichtskosten zu übernehmen. Vor allem stellte das Gericht fest, dass die Tatsache, dass das Cafe nicht barrierefrei ist, einen ausreichenden Grund für die Verletzung der menschlichen Würde darstellt. Es wird erwartet, dass auf der Basis dieses positiven Urteils zur Gleichstellung Behinderter ein neuer Standard in der ungarischen Rechtssprechung zu dieser Frage gesetzt wird.
Nachdem dieser Prozess von Anfang an mit einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit begleitet wurde, löste das positive Urteil eine Vielzahl von Berichten in den Medien aus, die u.a. dazu beitrugen, dass die VertreterInnen des Bürgerrechtsbüros die Möglichkeit hatten, ihre Vorstellung von der Gleichstellung anhand dieses Beispiels effektiv in die Öffentlichkeit zu tragen.
Dieses Urteil bot letztendlich auch die Grundlage für die Fortführung der Aktivitäten nach Projektende, da durch die neu entstandenen Kontakte nun neue Fördermöglichkeiten erschlossen werden konnten, so dass das begonnene Angebot nicht nur aufrecht erhalten, sondern sogar noch durch eine intensivere Rechtsberatung ausgeweitet werden kann.
Last but not least fand im Rahmen dieses Projektes Anfang Oktober 2002 ein Austausch und Schulungsprogramm mit den deutschen Partnern in Ungarn statt. Dabei stand die Vermittlung von Durchsetzungsstrategien für die Gleichstellung Behinderter im Mittelpunkt. Nicht zuletzt anhand der Kampagne Aktion Grundgesetz zeigten die Referenten auf, welche Möglichkeiten es für eine effektive Öffentlichkeitsarbeit und politische Interessenvertretung Behinderter gibt. Neben der Vermittlung der rechtlichen Regelungen und Erfolge für eine barrierefreie Gestaltung in Deutschland ging es jedoch vor allem darum, eine selbstbewusstere Haltung gegenüber der eigenen Behinderung und Benachteiligungen zu vermitteln, was bei den ungarischen Partnern auf großes Interesse stieß. Für das NETZWERK ARTIKEL 3 war es dabei interessant zu erleben, welche Dynamik sich mittlerweile in der ungarischen Selbsthilfebewegung behinderter Menschen entwickelt hat und wie sich die Diskussionen und Auseinandersetzungen gleichen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mit Hilfe dieses Projektes eine Vielzahl von Aktivitäten der ungarischen Selbsthilfebewegung angeschoben und ausgelöst wurden, die ihren Fokus in dem von der Aktion Mensch geförderten Projekt und Bürgerrechtsbüro Behinderter findet. Am besten beschreiben die Auswirkungen dieses Projektes die ungarischen Projektpartner selbst. Die Projektkoordinatorin Dr. Sophia Kalman beschreibt dies übersetzt wie folgt:
„Wir schätzen die zweijährige Unterstützung der Aktion Mensch und die Zusammenarbeit mit dem NETZWERK ARTIKEL 3 sehr. Wir finden, dass diese zweijährige Kooperation eine zentrale Veränderung in unserer Arbeit gebracht hat, mit einem neuen Vorstand, mit neuen Aktivitäten und neu gewonnener Energie. Das deutsche Beispiel hat uns aber vor allem geholfen, einiges von unserer traditionellen Schüchternheit zu überwinden und hat vor allem den jungen Menschen geholfen, bestimmtere und konkretere Schritte zur Gestaltung ihrer Zukunft einzuleiten. Wir sind auch davon überzeugt, dass die Eröffnung des Rechtsberatungsbüros und der neuen Beratungsstelle für eine barrierefreie Gestaltung uns befähigen wird, die Bedürfnisse behinderter Menschen zukünftig besser zu berücksichtigen und zu unterstützen. All unsere Aktivitäten, Veröffentlichungen, die Road Show mit den Marathons, Konferenzen etc. und besonders der erfolgreiche Prozess mit einer enormen Berichterstattung in der Presse haben eine Veränderung im Hinblick auf die Einstellung der Bevölkerung gegenüber behinderten Menschen bewirkt.“
Ottmar Miles-Paul, Projektkoordinator
am Donnerstag, 01.01.1970, 01:00