April 2003
Die PISA-Untersuchung hat gezeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem auf möglichst homogener Sortierung und äußerer Differenzierung der Schülerinnen und Schüler beruhenden Schulsystem weder in der Förderung der Spitzenleistungen noch in der Breitenförderung erfolgreich ist. Demgegenüber zeichnen sich die erfolgreichen Länder in der Regel durch ein alle Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweiligen Fähigkeiten akzeptierendes, integrierendes und binnendifferenziertes Schulsystem aus. Dieser Befund wird durch die Ergebnisse der jetzt vorgestellten internationalen Grundschulleseuntersuchung (Iglu) bestätigt, wonach die noch heterogen unterrichteten deutschen Grundschüler wesentlich besser abschneiden als die nur scheinbar homogenisierten Sekundarschüler in der PISA-Untersuchung. Demnach ist die binnendifferenzierende Grundschule dem separierenden Sekundarschulwesen überlegen.
Der leistungssteigernde Effekt von binnendifferenziertem Unterricht wurde bereits seit den 80er-Jahren in einer Vielzahl von Untersuchungen zu "Integrationsklassen" nachgewiesen. Dennoch haben die für die Schulpolitik Verantwortlichen in nahezu allen Bundesländern diese "inklusive" Beschulung nur so weit zugelassen, dass nur die engagiertesten Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer ihre Vorstellung von Schule punktuell verwirklichen konnten, ohne dass an der selektiven Schulstruktur insgesamt etwas geändert wurde. Beispielhaft sei hier Nordrhein-Westfalen genannt, wo derzeit nicht einmal 2% der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Allgemeine Schule der Sekundarstufe I besuchen. Bereits seit 18 Jahren gibt es dort den Schulversuch "Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I" und erst in diesen Tagen wurde von der Regierungskoalition ein Antrag in den Landtag eingebracht, der eine Ausweitung des Gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I vorsieht. Kennzeichnend für eine derartige Hinhaltepolitik ist auch, dass Schulgesetze wie etwa in Berlin Eltern ein Wahlrecht zwischen Sonder- und Regelschule einräumen und sogar wie in Brandenburg vom "Vorrang der Gemeinsamen Erziehung" sprechen, dies aber noch im selben Paragraphen durch einen Haushaltsvorbehalt ad absurdum geführt wird: die Verwirklichung der Wahl einer nichtaussondernden schulischen Förderung wird von der Bereitstellung der dafür erforderlichen personellen und sächlichen Mittel durch die Schulverwaltung abhängig gemacht, und in Berlin soll in Zukunft zudem die Schulleitung "aus pädagogischen Gründen" (!) ablehnen können. Von der sich daraus immer noch häufig ergebenden Missachtung ihres Wahlrechtes sind vor allem die Eltern von Kindern betroffen, die lernzieldifferent unterrichtet werden müssen oder einen relativ hohen personellen Unterstützungsbedarf haben. Auch bei den bereits genehmigten "Integrationsmaßnahmen" ist in vielen Bundesländern eine Verschlechterung der personellen Ausstattung zu beobachten. Wie Hohn wirkt es dann auf die von Ablehnung und Einsparungen betroffenen Eltern, dass für den vielerorts zu beobachtenden Neubau von Sonderschulen keine Mittelknappheit zu herrschen scheint.
Diese bestenfalls halbherzigen schulpolitischen Bemühungen um eine nichtaussondernde Beschulung werden verschlimmert durch Probleme, die andere Ministerien und Verwaltungen verursachen:
Diese Auflistung von Problemen bei der Verwirklichung nichtaussondernder schulischer Förderung kann leider keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie ließe sich noch erheblich verlängern. Das bisher Ausgeführte macht aber bereits deutlich: Über 30 Jahre nach dem Beginn der sehr erfolgreichen Schulversuche zur "integrativen" schulischen Bildung haben wir in Deutschland immer noch einen beschämend niedrigen Grad der Umsetzung erreicht. Nach der kürzlich veröffentlichten Statistik der Kultusministerkonferenz kommen gerade einmal 10% aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Genuss einer nichtaussondernden schulischen Förderung, mit erheblichen Schwankungen zwischen den Bundesländern und den Schularten.
Dabei haben zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass der integrierende Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler der bessere Unterricht ist, weil er die Unterrichtskultur praktiziert, die in den bei der PISA-Untersuchung erfolgreichen Länder flächendeckend verwirklicht wird: statt Lernen im Gleichschritt führen in heterogenen Lerngruppen individuelle Förderprogramme für jedes Kind zu selbstständigem, möglichst selbstbestimmtem und auch lustvollem Lernen. Die Lehrerinnen und Lehrer sind weniger "Dompteure", sondern verstehen sich eher als Beraterinnen und Unterstützer der individuellen Lernprozesse. Eine solche Schulkultur wirkt sich nicht nur positiv auf die intellektuellen Leistungen, sondern auch auf die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler aus, wobei wie auch von der Wirtschaft immer wieder gefordert sowohl selbstständiges Lernen als auch arbeiten im Team gefördert wird.
Wenn Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in den Allgemeinen Schulen sind, tragen sie mit dazu bei, dass Beeinträchtigungen bzw. nicht oder nur schwach ausgeprägte Fähigkeiten nicht als Makel empfunden werden, sondern dass alle Schülerinnen und Schüler erfahren, dass diese Schwächen auch und gerade in der Schule akzeptiert werden können, dass man sich trotzdem bzw. gerade deshalb gegenseitig helfen kann und auch lernt, die eigenen Schwächen als etwas Normales, Menschliches zu akzeptieren, ohne Angst haben zu müssen, deswegen die vertraute Klasse oder gar die Schule verlassen zu müssen. In einer solchen Schulkultur, die vom Miteinander der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schülerinnen und Schüler statt von konkurrenzorientiertem Gegeneinander geprägt ist, sind Vorfälle wie das Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im April 2002 sowie zahlreiche andere Gewalttaten an Schulen kaum denkbar.
Wir beobachten mit Sorge, dass trotz solcher erschütternder Warnsignale die schulpolitisch Verantwortlichen nicht die richtigen Konsequenzen ziehen. In erster Linie geht es derzeit um den Ausbau der Messung von Schulleistungen. Da aber an der grundsätzlich selektiven Schulstruktur festgehalten wird, wird dies eher zu einer Verstärkung der alten, konkurrenzorientierten sowie Frustrationen und Aggressionen erzeugenden Schulkultur führen als zu einer wirklich neuen, das Miteinander betonenden und gerade deshalb sowohl im intellektuellen wie im sozialen Bereich leistungsfähigeren Schulkultur.
Vor diesem Hintergrund erneuern wir im Interesse aller Schülerinnen und Schüler unsere zentrale Forderung nach einem inklusiven Schulsystem, das in der Lage ist, alle Schülerinnen und Schüler, egal ob mit oder ohne Beeinträchtigungen, mit oder ohne "Migrationshintergrund", mit oder ohne wohlhabende Eltern, in angemessener Weise zu fördern. Bereits kurzfristig ist in den Schulgesetzen der Länder das uneingeschränkte Wahlrecht der Eltern im Hinblick auf eine nichtaussondernde schulische Förderung ihres Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu verwirklichen. Die massive Einschränkung des grundgesetzlich garantierten Elternrechtes durch einen "Haushaltsvorbehalt" ist eine nicht länger hinnehmbare Diskriminierung dieser Eltern.
Der Wunsch von Eltern nach einer nichtaussondernden Beschulung für ihr Kind darf nicht am Geld scheitern, zumal Kostenanalysen im Ausland und vor kurzem auch in Deutschland gezeigt haben, dass eine inklusive Beschulung nicht teurer als eine Sonderbeschulung ist. Darüber hinaus führt die Sonderbeschulung zu hohen Folgekosten, weil die betroffenen Schülerinnen und Schüler nach der Schulentlassung oft teure Plätze in "Werkstätten für Behinderte" und in Wohnheimen in Anspruch nehmen, während die professionell unterstützte Eingliederung in den Allgemeinen Arbeitsmarkt sowie ambulant betreutes, möglichst selbstständiges Wohnen deutlich kostengünstiger sind. Zudem gibt es inzwischen eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen, die nachweisen, dass bei ausreichender personeller und sächlicher Ausstattung die inklusive Beschulung sowohl im kognitiven als auch im sozio-emotionalen Bereich zumindest gleich gut, oft sogar besser als die herkömmliche Beschulung ist. Demgegenüber gibt es keine einzige Untersuchung, die eine bessere Förderung an Sonderschulen belegen kann.
Diese Probleme sollten aber möglichst nicht juristisch, sondern politisch geklärt werden, indem entsprechende Gesetzesänderungen erfolgen. Wir erwarten von den Landesgesetzgebern endlich Schulgesetznovellierungen, die kein halbherziges Flickwerk bleiben, sondern die Grundlage für eine gänzlich neue Schulkultur in Deutschland werden können. In dieser neuen Schulkultur muss es normal sein, verschieden zu sein. Denn nur das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigungen bietet eine Chance für eine leistungs- und zukunftsfähige Gesellschaft, die ohne Diskriminierungen die Würde aller Menschen achtet.
am Donnerstag, 01.01.1970, 01:00