In der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung ist geregelt, »dass Frauen mit Behinderungen und Widerstandsunfähige den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit wie Menschen ohne Behinderung haben«. Noch im Januar 2003 bestätigte die Bundesministerin der Justiz, Frau Brigitte Zypries in einem Schreiben an die Lebenshilfe, dass deren Anliegen der Angleichung der Strafrahmen des § 179 StGB, sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger (Vergehen ), an den Strafrahmen des § 177 StGB, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung (Verbrechen), durch die geplante Reform des Sexualstrafrechts berücksichtigt werde.
Leider trägt der nun vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ (BT-Drs.15/350 vom 28.01.03) dieser Forderung nur unzureichend Rechnung. Trotz Strafverschärfung in qualifizierten Fällen bleibt § 179 StGB ein Vergehen; es erfolgt keine Anpassung an § 177 StGB als Verbrechen.
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird dazu ausgeführt, es sei ein Systembruch, bereits die ohne Einsatz von Nötigungsmitteln erfolgte Vornahme einer sexuellen Handlung als Verbrechen einzustufen. Dagegen lässt sich einwenden, dass sich die Strafe des Täters nach seiner Schuld bemisst, und der Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person ein vergleichbares Maß an krimineller Energie erfordert wie der Einsatz von Nötigungsmitteln. Auch beim Diebstahl wird die Ausnutzung der Hilflosigkeit strafverschärfend bewertet. Es bleibt somit bei der Ungleichbehandlung von (behinderten) widerstandsunfähigen Opfern und denen, die einen solchen Widerstand leisten können.
Der Lebenshilfe geht es dabei nicht nur um eine schuldangemessene Bestrafung der Täter, sondern auch darum, bestehende Nachteile für die Inanspruchnahme einer Nebenklage zu beseitigen. Nur bei einem Kind unter 16 Jahren oder bei einem Verbrechen erfolgt eine Bestellung eines Anwalts für die Nebenklage auf Staatskosten (§ 397 a StPO). Gerade geistig behinderte Opfer sind dringend auf diese anwaltliche Unterstützung angewiesen, und haben in der Regel nicht die finanziellen Mittel, einen solchen selbst zu bezahlen.
Eine Ausweitung der Strafbarkeit der Nichtanzeige von sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen nach § 138 StGB ist abzulehnen
Zur Verbrechensverhütung wird eine strafbewährte Anzeigepflicht nach § 138 StGB für alle Volljährigen eingeführt, die von einer Straftat nach § 179 StGB erfahren, und nicht zu einem Zeitpunkt eingreifen, in dem die Straftat noch verhindert werden kann. Eine solche Strafausweitung wird von dem Europäischen Parlament für den Bereich der pädophilen Handlungen und der Kindesmisshandlung verlangt. Regelungen, die für den sexuellen Missbrauch von Kindern sinnvoll sind, sind jedoch nicht ohne weiteres auf den Personenkreis von Widerstandsunfähigen zu übertragen. Der Täterkreis ist ein anderer, z.B. spielt die pornografische Darstellung der Opfer im Internet keine Rolle. Eine solche Strafausweitung würde zu einem Klima des Misstrauens führen, das für die notwendige Liberalisierung des Sexualverhaltens geistig behinderter Menschen (denen das Grundrecht auf freie Wahl ihres Sexualpartners lange vorenthalten wurde) ein Rückschritt wäre. Zwar gibt es für bestimmte Personengruppen nach § 139 StGB Ausnahmen von der Anzeigepflicht, die jedoch nicht ausreichend sind. Eine so weitgehende Ausweitung der strafrechtlichen Verfolgung auf Freunde und Angehörige geistig behinderter Menschen hätte zuvor mit Fachleuten beraten werden müssen. Daran hat es gefehlt. Zu der Anhörung am 19.02.2003 vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages wurden die Behindertenverbände nicht eingeladen.
(Forderungen auf dem Parlamentarierabend der Lebenshilfe am 19.03.2003)
am Donnerstag, 01.01.1970, 01:00