NETZWERK ARTIKEL 3
Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.
Aus: Behinderung
& Menschenrecht
- Lfd. Nr. 23 - Mai / Juni 2003
Reform des Sexualstrafrechts
Stellungnahme des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften
1. Allgemeine Einschätzung
Grundsätzlich begrüßen wir dieses Gesetzesvorhaben, denn es trägt den Bedürfnissen behinderter Menschen, insbesondere behinderter Frauen Rechnung und setzt viele der Forderungen um, die Frauen mit Behinderung schon lange formuliert haben und die von vielen Nichtbetroffenen durch Unterschriftenaktionen unterstützt worden sind.
Gleichzeitig bedauern wir, dass es nicht zu einer grundsätzlichen Strafrechtsreform gekommen ist, so dass der Paradigmenwechsel beim Sexualstrafrecht noch aussteht. Unserer Ansicht nach muss bei fehlender Einwilligung von einer Ablehnung jeder sexuellen Handlung ausgegangen werden.
Wir bedauern des Weiteren, dass die Ungerechtigkeit hinsichtlich der Strafrahmen nur halbherzig behoben worden ist. Auch diesbezüglich fordern wir eine Nachbesserung des vorliegenden Entwurfes.
2. Detaillierte Einschätzung
2.1 Begrüßenswerte Aspekte
- Die Änderungen, die in den §§ 174 und 174 a-c vorgenommen worden sind, sind unserer Ansicht nach positiv zu bewerten.
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Ebenfalls positiv zu bewerten ist, dass der Strafrahmen beim Missbrauch mittels Eindringen in den Körper und bei anderen schweren sexuellen Handlungen widerstandsunfähiger Opfer gem. § 179 Abs.2 demjenigen der Vergewaltigung in § 177 Abs.2 angepasst worden ist.
2.2 Aspekte mit Änderungs-/Ergänzungsbedarf
- Nicht einzusehen ist, dass der sexuelle Missbrauch widerstandsunfähiger Opfer nach § 179, Abs. 1 erst im Wiederholungsfalle (§ 179, Abs. 2) mit demselben Strafrahmen belegt wird, wie er im § 177 für sexuelle Nötigung vorgesehen ist. Dem Argument, es bestehe bei einem höheren Strafrahmen die Gefahr, dass die Verfahren ganz eingestellt würden, ist die Frage entgegen zu halten, warum dann nicht der Strafrahmen des § 177 gesenkt wird. Uns geht es nicht um bestimmte Mindeststrafen, sondern um Gerechtigkeit. Es ist also in § 179 Abs. 1 eine Strafrahmenanpassung an den des § 177 Abs.2 vorzunehmen.
- In § 179, Abs. 1 ist außerdem die Nr. 2 „körperlich“ zu streichen, da es nach der Rechtsauffassung des BGH zum Begriff der Widerstandsunfähigkeit keine körperlich widerstandsunfähigen Opfer mehr geben kann, da körperlich widerstandsunfähige Menschen zur Bildung eines Widerstandswillens in der Lage sind.
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Außerdem ist der § 78 b StGB um die §§ 174 a und 174 c zu erweitern, da die Opfer häufig von den Tätern abhängig sind und sich oft erst Jahre nach der Tat trauen, über das Geschehene zu sprechen. Deshalb muss auch in diesen Fällen die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Tatopfers ruhen.
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Der § 174 c sollte dergestalt ergänzt werden, dass er sich auch auf den Missbrauch innerhalb von Pflegeverhältnissen erstreckt, von dem insbesondere körperbehinderte Frauen bedroht sind, die im Intimbereich auf Assistenz angewiesen sind.
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Der § 397 a StPO ist dahingehend zu ergänzen, dass NebenklägerInnen mit einer seelischen oder sogenannten geistigen Behinderung, die nicht in der Lage sind, ihre Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen, unabhängig von ihrem Alter auf Antrag eine Nebenklagevertretung auch dann zu bestellen ist, wenn es sich in der Tat nach Satz 1 um ein Vergehen oder eine Tat nach § 225 StGB handelt. Diese Ergänzung ist insbesondere aufgrund der Vielzahl von bekannt gewordenen Fehlurteilen (Expertise von Prof. Dr. Dagmar Oberlies: Selbstbestimmung und Behinderung. Wertungswidersprüche im Sexualstrafrecht? Fachhochschule Frankfurt, 2001) in diesem Bereich notwendig.
3. Empfehlung
Es wird empfohlen, durch eine Korrektur im Tatbestand des § 179 StGB klarzustellen, dass eine Widerstandsunfähigkeit des Tatopfers nur dann vorliegt, wenn dieses nicht in der Lage ist, einen Widerstandswillen zu bilden. Hierdurch soll eine klare Abgrenzung der Regelungsbereiche von §§ 177 und 179 StGB auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH erzielt werden.
Damit soll der für behinderte Menschen diskriminierenden Rechtsprechungspraxis der Tatgerichte entgegen gewirkt werden, die wiederholt widerstandsfähige Tatopfer alleine aufgrund ihrer Behinderung als widerstandsunfähig eingeordnet und ihnen damit ihre Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung abgesprochen haben. Die Gerichte übergingen die Tatsache, dass die Opfer erkennbar „Nein“ gesagt hatten, mit Gewalt zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden oder sich aber zum Tatzeitpunkt in einer schutzlosen Lage befanden, die der Täter ausgenutzt hat (§ 177 Abs. 1 Ziff. 3 StGB). Der Gesetzgeber hat 1998 u.a. genau für diese Fälle zum besseren Schutz behinderter Tatopfer § 177 Abs. 1 Ziff. 3 StGB eingefügt. Damit die Gerichte dieser Vorschrift Rechnung tragen, empfiehlt es sich, § 179 StGB als Auffangtatbestand deutlicher im Tatbestand auf diejenigen Menschen zu beschränken, die zum Tatzeitpunkt außerstande sind, einen der Tat entgegenstehenden Willen zu bilden.
(Stellungnahme vom 10. Februar 2003, Dr. Sigrid Arnade - Vorstand NW3)
aktualisiert:
am
Donnerstag, 01.01.1970, 01:00