Kassel: Den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember haben einige Aktive aus dem Kasseler Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen zum Anlass genommen, um auf die Entwicklungen der Behindertenpolitik- und bewegung der letzten 30 Jahre zurückzublicken. Dabei standen besonders auch die Entwicklungen, die sich während dieser Zeit in Kassel vollzogen haben, im Mittelpunkt und gab es auch einige gute Nachrichten zur Inklusion.
Als Uwe Frevert 1991 nach Kassel umgezogen ist, um einen Job im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Persönlichen Assistenz anzunehmen, kam er sozusagen vom Regen in die Traufe. In München hatte er gerade mit einer Reihe Aktiver aus der Behindertenbewegung recht erfolgreich dafür gekämpft, dass der Nahverkehr dort barrierefreier wird, nur um dann in Kassel so gut wie wieder von vorne anzufangen. Die wenigen barrierefreien Straßenbahnen und Busse konnte man damals in Kassel sozusagen an einer Hand abzählen. Zudem waren viele Haltestellen nicht barrierefrei. Fußgängertunnel erschwerten zudem die Überquerung einer Reihe von großen Straßenkreuzungen bzw. machten diese für gehbehinderte Menschen so gut wie unmöglich. Heute sieht es in Sachen Nahverkehr in Kassel zum Glück wesentlich besser aus, auch wenn das Ziel eines komplett barrierefreien öffentlichen Nahverkehrs, wie im Personenbeförderungsgesetz vorgeschrieben, zum 1. Januar 2022 nicht erreicht wird. Der Kampf geht also weiter. Möge die Vorgabe der neuen Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag hier einen Schub geben, denn der Koalitionsvertrag sieht vor, dass bis 2026 alle Ausnahmen in Sachen Barrieren im öffentlichen Personennahverkehr auslaufen sollen.
Auch in Sachen Jobs für behinderte Menschen war es damals eher Mau, vor allem wenn es darum ging, gute und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden, bei denen behinderte Menschen als gleichberechtigte Partner*innen behandelt wurden. Mit Hilfe der damaligen Förderungen im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Unterstützung durch die in Bonn ansässige Zentralstelle für Arbeitsvermittlung behinderter Akademiker*innen gelang es in den letzten 30 Jahren viele Jobs für behinderte Menschen zu schaffen. Allein im Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen arbeiten heute fast 50 Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen in den dort ansässigen Vereinen auf regeluären Arbeitsplätzen und haben Leitungsfunktionen inne.
Dass die Lobbyarbeit für behinderte Frauen heute so aktiv vom Weibernetz betrieben wird, hat viel damit zu tun, dass Brigitte Faber und Martina Puschke ab Mitte der 90er Jahre in Kassel Jobs fanden und nach Kassel umgezogen sind. Das Weibernetz ist heute als politische Interessenvertretung behinderter Frauen weithin bekannt und in verschiedenen Bereichen aktiv. Das war aber kein Selbstläufer, sondern darin steckt sehr viel harte und ehrenamtliche Zusatzarbeit drin, die weit über die Möglichkeiten der mittlerweile geschaffenen Stellen hinausgehen.
Und dass mit der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungstelle (EUTB) heute durch den Verein Selbstbestimmt Leben in Nordhessen (SliN) ein niedrigschwelliges Beratungsangebot von behinderten Menschen in Kassel angeboten werden kann, dafür hat die Selbstbestimmt Leben Bewegung lange gekämpft. Dass dies auch bestehen bleibt, dafür setzen sich die Berater*innen wie Petra Willich und Uwe Frevert mit ihren Kolleg*innen ein und haben gerade auch in der Corona-Pandemie immer wieder neue Wege zur Beratung von behinderten Menschen durch behinderte Menschen beschritten.
Das waren nur einige Aspekte des gut zweistündigen Gespräches in kleiner pandemiegerechter Runde mit Glühwein und Keksen am 3. Dezember im Kasseler Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menchen (ZsL). Einig waren sich die Gesprächsteilnehmer*innen darin, dass es nun wichtig ist, dass die neue Generation das Ruder immer mehr übernimmt. Möge diese das mit ähnlichem Engagement tun, wie die Gründer*innen der verschiedenen Organisationen und Projekte, denn die Erfahrung lehrt, von allein kommt meist nichts, behinderte Menschen müssen nach wie vor für ihre Selbstbestimmung und Gleichstellung kämpfen und sehr aktiv sein.