Einleitung
Mehrfache Diskriminierung
(Julia Zinsmeister)

I. Entwicklung und Einordnung

Behinderte Menschen werden nicht nur wegen der Behinderung, sondern häufig auch wegen des Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft oder aus anderen Gründen benachteiligt. Der Häufigkeit nach bewegen sich vor allem Frauen an den Schnittstellen unterschiedlicher Diskriminierungsverbote, da sie Benachteiligungen nicht nur als Mitglieder gesellschaftlicher Minderheiten, sondern zugleich (auch innerhalb dieser Minderheiten) aufgrund ihres Geschlechts erfahren. In diesem Fall müssen verschiedene Gleichheitssätze kombiniert angewandt werden (Art. 3 Abs.2 und Abs. 3 S. 1 und Abs.3 S. 2 GG). Für behinderte Frauen (ggf. aber auch Männer) erlangen daher neben den Behindertengleichstellungsgesetzen die Gesetze zur Gleichstellung von Frauen und Männern besondere Relevanz. Das Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG) löste seit 2001 das Frauenfördergesetz von 1994 ab und regelt die Gleichstellung der Geschlechter in der Bundesverwaltung und den Gerichten des Bundes. Das erste Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern im öffentlichen Dienst trat bereits 1990 in Bremen in Kraft (LGG). Es folgten 1991 das Gleichstellungsgesetz Hamburg (LGG), 1993 das Hessische Gleichberechtigungsgesetz (HGlG), 1994 das Landesgleichstellungsgesetz Brandenburg (LGG), das Niedersächsische Gleichberechtigungsgesetz (NGG), das Sächsische Frauenfördergesetz (SächsFFG) sowie das Gesetz zur Gleichstellung der Frauen im öffentlichen Dienst in Schleswig-Holstein (GstG). Seit 1995 gibt es ein Landesgleichberechtigungsgesetz (LGG) in Rheinland-Pfalz, seit 1996 das Bayerische Gleichstellungsgesetz (BayGlG) und seit 1997 das Frauenfördergesetz (FrFG) in Sachsen-Anhalt. 1998 folgten Gleichstellungsgesetze in Mecklenburg-Vorpommern (GlG M-V), dem Saarland (LGG) und in Thüringen (ThürGleichG), 1999 in Nordrhein-Westfalen (LGG). Als letzte Bundesländer haben 2002 Berlin (LGG) und 2005 Baden-Württemberg (ChancenG) die Geschlechtergleichstellung im öffentlichen Dienst geregelt.
An den Schnittstellen von Geschlecht und Behinderung entstehen Benachteiligungen von eigenem Charakter, die im deutschsprachigen Raum als mehrfache, mehrdimensionale bzw. anknüpfend an den internationalen Diskurs auch als intersektionelle Diskriminierung bezeichnet werden. Mit Blick auf entsprechende Diskriminierungserfahrungen behinderter Frauen hat der deutsche Gesetzgeber 2001 die Träger der Rehabilitation und Teilhabe in § 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) verpflichtet, bei der Gewährung der Leistungen den "besonderen Bedürfnissen" behinderter Frauen Rechnung zu tragen. Dieser Auftrag zur geschlechtergerechten Leistungsgewährung wird in den nachfolgenden Regelungen des SGB IX weiter konkretisiert (vgl. nur §§ 9 Abs.1 S. 3, 33 Abs. 2 und 71 Abs. 1 S. 2 SGB IX, § 36 SGB IX i.V.m. §§ 1, 3 Abs. 4, 12 Abs. 1 AGG sowie § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).
Die Formulierung des § 1 S. 2 SGB IX fand 2002 Aufnahme in § 2 S. 1 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG). § 2 S. 2 BGG erklärt Maßnahmen zur Förderung von behinderten Frauen und zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen ausdrücklich für zulässig. Im Jahr 2006 stellt der Gesetzgeber im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) klar, dass eine unterschiedliche Behandlung von Menschen wegen des Geschlechts nicht mit dem Verweis auf eine Behinderung gerechtfertigt werden kann oder umgekehrt. Vielmehr muss sich die Rechtfertigung einer Benachteiligung aus mehreren Gründen auf jeden dieser Gründe erstrecken (§ 4 AGG). § 3 Abs. 4 AGG erklärt die sexuelle Belästigung zu einer verbotenen Form der Diskriminierung. § 33c SGB I und § 19a SGB IV erstrecken Benachteiligungsverbote explizit auf das Sozialleistungsrecht.
In ihrem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Be-hindertenkonvention) haben sich die UN-Vertragsstaaten 2006 in Artikel 6 zu Schutz behinderter Frauen vor Mehrfachdiskriminierung verpflichtet, dazu zählen geeignete Schutzmaßnahmen vor geschlechtsspezifischer, d.h. häuslicher und sexueller Gewalt (Art.16), die Anerkennung ihrer Reproduktionsfreiheit sowie die Achtung und Förderung des Familienlebens behinderter Eltern und ihrer Kinder (Art.23).
Die jüngste Regelung zur Überwindung mehrfacher Diskriminierung behinderter Menschen findet sich seit 2008 im Recht der Pflegeversicherung. Nach § 1 Abs. 4a) SGB XI sollen geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Pflegebedürftigkeit von Männern und Frauen und ihrer Bedarfe an Leistungen berücksichtigt und den Bedürfnissen nach einer kultursensiblen Pflege nach Möglichkeit Rechnung getragen werden.

II. Wesentlicher Inhalt

Mehrfache Diskriminierungen sind meist mittelbare Benachteiligungen, die nicht bereits in der Regelung selbst, sondern erst in deren nachteiligen Auswirkung auf die Betroffenen zum Tragen kommen. Um Mehrfachdiskriminierungen erkennen zu können, sollten bei der Rechtsanwendung grundsätzlich alle tangierten Gleichheitssätze geprüft werden. Ergibt die Prüfung, dass es sich tatsächlich um eine intersektionelle, d.h. verschränkte Benachteiligung handelt, kommen die entsprechenden Gleichheitssätze kombiniert zur Anwendung. Allerdings unterschieden sich Antidiskriminierungsvorschriften wegen des Geschlechts, der Behinderung oder anderen Gründen in Reichweite und Schutzniveau erheblich voneinander. Die Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter nehmen die Bundes- und Landesverwaltungen fast ausschließlich als öffentliche Arbeitgeber in die Pflicht mit dem Ziel, die Beschäftigung von Frauen im öffentlichen Dienst zu fördern. Die Behindertengleichstellungsgesetze verpflichten die Dienststellen darüber hinaus zum Abbau von Barrieren, die Bürgerinnen und Bürgern den Kontakt erschweren. § 71 SGB IX schreibt öffentlichen und privaten Arbeitgebern feste Quoten für die Besetzung von Arbeitsplätzen mit schwerbehinderten Menschen vor. Die Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter hingegen verpflichten nur öffentliche Arbeitgeber, und verlangen nicht die Beschäftigung eines festgelegten Prozentsatzes weiblicher Mitarbeiter, sondern die Bevorzugung von Bewerberinnen bei gleicher Qualifikation, freilich nur solange, bis ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis hergestellt ist.
Das AGG erweitert seit 2006 den Schutz vor mehrfacher Diskriminierung über den verfassungsrechtlichen Rahmen hinaus auf Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft, der sexuellen Identität und des Alters.

III. Durchsetzbarkeit

In der Rechtspraxis besteht eine wesentliche Herausforderung darin, mehrfache Diskriminierung überhaupt zu erkennen, glaubhaft zu machen und zu beweisen. Um nachzuweisen, dass eine Regelung oder Rechtshandlung, die an scheinbar neutrale Regelungen anknüpft, dennoch einen bestimmten Personenkreis nachteilig trifft (mittelbare Diskriminierung), müssen in der Regel Daten zur Situation dieses Personenkreises mit denen der anderen Vergleichsgruppen verglichen werden. Mehrfachbenachteiligungen erfordern den Vergleich zwischen mindestens vier Vergleichsgruppen. Je kleiner die zu vergleichende Teilpopulation ist, um so geringer ist die Chance, dass geeignetes Datenmaterial zur Verfügung steht. Zum Nachweis mehrfacher Diskriminierungen müssen daher künftig mehrere Faktoren auf der Grundlage von Regressionsrechnungen ermittelt werden.
Um Mehrfachdiskriminierungen rechtlich zu begegnen, müssen Gleichheitssätze kombiniert zur Anwendung kommen. Dabei können unterschiedlichen Schutzniveaus der kombiniert anzuwendenden Gleichstellungsvorschriften den einzelnen Personen die Rechtsdurchsetzung erschweren. Umso wichtiger kann für die Betroffenen die Inanspruchnahme von Beratung und Vertretung sein.
Die öffentlich-rechtlichen Gleichstellungsgesetze sehen einerseits die Einrichtung von Beauftragten für die Frauen- und Geschlechtergleichstellung, andererseits Be-hindertenbeauftragte vor. Das SGB IX verpflichtet darüber hinaus öffentliche und private Betriebe mit mindestens fünf schwerbehinderten Beschäftigten, Schwerbehindertenvertretungen einzurichten. Mehrfachdiskriminierte Frauen laufen Gefahr, von einem Beauftragten an den anderen verwiesen zu werden.
Das AGG verfolgt hingegen erstmals bei der Einrichtung kollektiver Interessenvertretungen einen horizontalen Ansatz: Die auf der Grundlage des § 25 AGG errichtete Antidiskriminierungsstelle des Bundes soll die Interessen aller von Benachteiligungen nach § 1 AGG betroffenen Gruppen und damit auch deren Schnittmengen berücksichtigen. Der horizontale Ansatz erweist sich mithin gerade für mehrfach benachteiligte Menschen als vorteilhaft. Freilich laufen gruppenübergreifend agierende Gleichstellungsbeauftragte Gefahr, den Spezifika aller Diskriminierungsformen und -erfahrungen nicht mehr angemessen Rechnung zu tragen. Vor allem in kleineren Betrieben kann einer zielgruppenspezifischen Interessenvertretung daher auch künftig der Vorzug zu geben sein, das gilt inbesondere, wenn sie in ein übergreifendes Diversity Management eingebettet wird.

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